Dobrosav Gavrilovic
"Alle hatten viel Arbeit, und alle hatten viel Spaß!"

Kinder, das waren noch Zeiten! Damals sucht Deutschland Hände ringend Arbeitskräfte – in Italien, in Spanien, in Portugal, in Griechenland und Nordafrika. Anwerber schwärmten aus, um geeignetes Personal fürs Wirtschaftswunderland zu rekrutieren. Viele lassen sich anwerben, weil die Lage zu Hause nicht eben rosig ist. Schmalhans, so geht damals das Wort, ist in vielen Regionen Südeuropas Küchenmeister; man weiß kaum, wie man die Kinder satt kriegen soll, und von so etwas wie Luxus und Überfluss kann man nur träumen.

Auch im Kosovo sind die meisten Menschen nicht auf Rosen gebettet. Der junge Dobrosav Gavrilovic jedenfalls ist es nicht. Er lebt in einem winzigen Dorf nahe Kamenica – jugoslawische Provinz damals, eine Region, die heute zu Serbien zählt. Arbeit gibt es nur manchmal, eine Perspektive gar nicht. Und auch die Liebe zu Jelica aus dem Nachbardorf macht nicht satt. Als jemand aus Dortmund plötzlich in der Provinz aufkreuzt, muss Dobrosav Gavrilovic nicht lange überlegen. Er berät sich mit seiner Liebsten und all den anderen, die ihm lieb und teuer sind. Am 10. Juni 1969 kommt er in Dortmund an.

Nun ist er Gastarbeiter. Einer von gut 2,5 Millionen im Land (wir sprechen allein von Westdeutschland), deren Lage schon Anfang der 1970er oft zunehmend wieder prekär werden soll …

Als er ankommt, ist er erstmal allein

Als er ankommt, da ist er Mitte zwanzig und schon ein paar Jahre verheiratet, ist er erstmal allein. Und: Er ist auch schon Vater; seine Tochter ist damals gerade vier. „Wir waren mit 19 verliebt, und mit 20 verheiratet. Das war so üblich damals. Geheiratet wurde jung. Wir haben uns“, erzählt er, „damals oft in der nächsten Stadt auf dem Markt getroffen, immer freitags. Oder bei Tanzveranstaltungen im Dorf. Und so hat sich das allmählich entwickelt!“ Das Paar gehört zu den orthodoxen Christen im Land. Bei der Hochzeit ist „großer Bahnhof“. Die Messdiener schwenken in der Kirche die Weihrauchfässchen, die Pope ist in vollem Ornat, es wird gesungen und gesegnet und schließlich mit beiden – großen – Familien getanzt und gefeiert.

„Die erste Zeit in Dortmund“, erinnert er sich, „war nicht ganz einfach, aber Gott sei Dank dauerte das nur kurz!“ Schon nach sechs Monaten kann sich die junge Familie wieder in die Arme schließen; dennoch sollen künftig Trennungen den Alltag bestimmen. Gavrilovic hat Maschinenschlosser gelernt und wird lange Jahre immer wieder auf Montage sein …

Erste Station in Dortmund: die Münsterstraße. Gavrilovic arbeitet – es sollen elf lange Jahre werden – bei der Maschinenfabrik Wagner. Man kümmert sich hier um die Leute. „Überhaupt“, sagt er, „war das ganz anders damals. Alle hatten viel Arbeit, und alle hatten viel Spaß.“ Die Firma hilft bei der Suche nach einer größeren Wohnung und wird in der Lange Straße fündig. Später wird die Adlerstraße zur neuen Adresse – die bis heute Gültigkeit hat. Es sind kurze Wege zu Arbeit, auch für die heute 72-jährige Jelica Gavrilovic, die bis zur Rente bei Miebach als Raumpflegerin tätig ist.

Auf Montage für Mannesmann

Anfang der 1980er Jahre wird in großem Stil entlassen. „Man bot uns eine Abfindung an, die haben wir nach kurzem Überlegen akzeptiert. Und dann hatte ich Glück: Es gab sofort neue Arbeit für mich.“ Die neue Firma liegt in Aplerbeck. Dank des Geldsegens seitens der Maschinenfabrik legt der Schlosser den Weg in einem schicken Ford Taunus zurück. Dann wieder ein Wechsel – zu Mannesmann diesmal. Gavrilovic schraubt und schweißt an diversen Atomkraftwerken. Brokdorf, Holland, die Schweiz … „da hab ich richtig Geld verdient!“

Die Jahre gehen ins Land. Die Tochter wächst heran, lernt Fremdsprachenkorrespondentin; im Garten hinter dem weißen Gründerzeithaus in der Adlerstraße wird gegrillt und gelacht und das eine und andere Dortmunder Bierchen gezischt. Und dann wird erneut das Thema Abfindung diskutiert. Ein Brief von der Mannesmann-Zentrale in Düsseldorf flattert ins Haus. 1990 ist das, die Abfindung ist hoch, eine Lohnfortzahlung für vier Monate garantiert. Man berät sich wieder – und akzeptiert.

Diesmal wird es eine Leihfirma. Der Schlosser, dem jeder Arbeitgeber nur die besten Zeugnisse ausstellt, arbeitet als Schweißer für Edelmetalle, erst in Schwelm, später in Aachen. Er fällt auf. „Da kam einer und meinte: ‚Du bist zu gut für so eine Leihfirma!’, der hat mich dann weiter vermittelt!“ Dobrosav Gavrilovic im Glück: Ein paar Monate später fängt er fest als Schweißer bei einer Firma in Ennepetal an: „Da war ich sofort auf Montage in Österreich.“

Frau und Tochter bekommen ihn in der Folge nicht eben oft zu Gesicht. Er ist auch weiterhin viel unterwegs, In Schweden, auch Österreich wieder, der Schweiz. Oft auch in München, noch öfter in Berlin. „Da gab es damals ja noch die DDR, was glauben Sie: Ich hatte den ganzen Pass voller Stempel.“

Dann ist die Firma am Ende. Insolvenz. Der „Malocher“ muss zum Amt. Rente mit 63 ist das Angebot, Abzüge natürlich, „aber gab es eine Alternative?“ Er berät sich mit seiner Frau und unterschreibt. Nun ist sie es, die das Haus zum Arbeiten verlässt, während er zurück bleibt. Ein paar Jahre geht das noch so, während er, „natürlich, ist doch klar!“, die Hausarbeit und Einkäufe erledigt.

Lange Fahrt in die alte Heimat

Die Tochter ist zu dieser Zeit längst aus dem Haus. Sie lebt seit 1985 mit ihrer Familie in Serbien, sie ist in Deutschland aufgewachsen, und natürlich spricht sie perfekt Deutsch, aber die Kinder, die beide auch schon Mitte 20 sind, sind bei Besuchen in Dortmund aufs Dolmetschen angewiesen. Gut geratene Kinder seien es, versichert der stolze Großvater, aber das Deutsche, nun ja, es ist halt nicht so ihrs …

Warum auch? Muss ja nicht! Sie waren zwar Silvester erst in der Adlerstraße, aber üblicherweise kommen die Großeltern zu ihnen nach Leskovac, das liegt rund 240 Kilometer Luftlinie von Belgrad entfernt. Aus dem Ford Taunus von damals ist mit den Jahren ein schnittiger schwarzer Audi geworden, mit dem der 74-Jährige und seine Frau jedes Frühjahr die lange Fahrt in die alte Heimat antreten. Seit über zehn Jahren verbringen sie den Sommer dort. „Es ist ja“, sagt Gavrilovic, „genauso unser Land wie Deutschland, auch wenn wir es früh verlassen haben.“

Nicht kleckern – klotzen!

Im Alter sind die beiden noch mal richtig durchgestartet. Eine halbe Autostunde von Leskovac entfernt hat man gebaut – keine Doppelhaushälfte, nein! Hier wurde nicht gekleckert, hier wurde geklotzt. Und nun steht im malerischen Bad Sijarinska, einem Kurort mit heißen Quellen, die diverse Zipperlein heilen sollen, ein stattlicher Gasthof. 14 Zimmer gibt es da, so der Hausherr, 35 Betten „und eine große Küche für alle, die sich selbst versorgen wollen.“ Vier Etagen gibt es außerdem. Und 1500 Übernachtungen pro Jahr – dabei ist das Haus nur in den Sommermonaten geöffnet. Viele Russen kommen, die die Quellen schätzen und die grandiose Natur. Den ersten Stock haben sich die beiden, die so jung nach Deutschland kamen, für ihren Lebensabend in Serbien hergerichtet. Und doch: Man ist immer ein bisschen hingerissen. Und dann wieder her …  Heimat ist eben auch da, wo alte Freunde und Freundinnen sind. Oder die vertraute Gemeinde wie die orthodoxe Kirche in Marten, wo die Gavrilovics sonntags per Handschlag begrüßt werden. „Wir machen das einfach, solange es geht“, sagt der 74-Jährige mit einem leisen Lächeln, „im Sommer sind wir unten. Und im Winter wieder in der Adlerstraße.“

Den Gasthof mit seinen 35 Betten schmeißen, wenn nötig, zwischendrin auch mal die Enkel. Sie sind eben gut geraten, die Enkelkinder. Aber das hatte der sehr sympathische Dobrosav Gavrilovic ja schon erwähnt …

 

 

Text: Ursula Maria Wartmann
Foto: Roland Baege

Sommer 2015