Lilly Holzmann
Sie hat sich einfach getraut

Sommer und Westpark – das war schon immer ein Muss, auch früher, als sie noch in Asseln wohnte. Oder im Saarlandstraßenviertel. „Das“, findet Lilly Holzmann, „hat auch Charme, aber hier ist es witziger. Hier hab ich das Gefühl, du kannst im Schlafanzug zum Kiosk gehen, und keiner würde komisch gucken.“
Im Pyjama zum Kiosk? Das kann ohne Frage ein Kriterium sein, erst recht, wenn man 21 ist. Und deshalb ist Lilly momentan „total happy“. Sie hat ziemlich nah an der U-Bahn im Unionviertel eine Bleibe gefunden. Zwei Zimmer, hohe Decken, eine geräumige Wohnküche … Da ist Platz für sie und Emma, ihre Mitbewohnerin, die Design studiert und ebenfalls begeistert ist.
Lilly Holzmann sitzt auf dem Sofa und erzählt. Dass sie Sternzeichen Skorpion ist, dass sie eine starke Willenskraft hat, „aber nur, wenn mich was interessiert.“ Kleines Grinsen: „Okay, das Abi hab ich trotzdem gemacht.“ Für ein Philosophie-Studium in Bochum reicht das Interesse nicht. „Das war’s einfach nicht. Das Audimax ständig total überfüllt. Und dann bin ich eines Tages da über eine Bodenplatte gestolpert und hab mich lang gelegt. Das war wie ein Zeichen. Alibi-Studentin, das war nichts für mich, ich hab’s dann einfach gelassen.“
Irgendwie muss sie schon früher so etwas geahnt haben. Jedenfalls, erzählt sie, habe sie schon während der Abizeit „was eingefädelt.“ Sie hat hin- und herüberlegt. Mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Jan („Der bedeutet mit echt viel.“) und ihrer Mutter („Ich wäre bestimmt ihre Freundin, wenn wir gleichaltrig wären.“) hin- und her diskutiert. Soll sie? Oder soll sie nicht? Und dann hat sie sich einfach getraut.

Englisch für die Kleinen

Panama. Von August 2013 bis Juni 2014 ist Lilly Holzmann in Mittelamerika, in Panama erst, wo sie sechs Monate lang bei Gasteltern in einem Dorf lebt und fünf- bis siebenjährigen Kindern Englischunterricht gibt. Sie ist mit dem AFS da, dem American Field Service. „Die haben den kulturellen Austausch als Leitmotiv, aber es kommt schon ganz schön darauf an, was man selbst daraus macht.“
Im Dorf ist sie „die Weiße“. Niemand kann sich zu Beginn mit ihr verständigen, aber man kommt, um sie zu bestaunen. Der 17jährige Sohn der Gastfamilie staunt mehr, als ihr lieb ist. „Der guckte mit seinen Kumpels durch meine Zimmertür, als ich ohne Bettdecke, die gibt es da wegen der Hitze nicht, meinen Jetlag ausgeschlafen habe. Das war nicht sehr cool, aber später hat sich alles ziemlich entspannt. Die Gastfamilie und das Dorf, das war schon okay.“
Die paar Brocken Spanisch, die sie kann, bringen sie nicht weit, zumal „die Latinos die Hälfte der Wörter einfach verschlucken“. Sie schreibt „voll viel Tagebuch“ in diesen langen Monaten, bringt den Kleinen Englisch bei, mit gemalten Bildern und Liedern. Und lernt von ihnen schließlich die Landessprache. „Danach war alles viel einfacher.“

Im Bus Richtung Mexiko

Dann ist die Zeit in Panama vorbei. Sie wird noch ein halbes Jahr unterwegs sein, so ist der Plan. Und so besteigt sie als erstes den „chicken bus“ Richtung Mexiko.
Ein „chicken bus“ sei ein ausgemusterter Schulkinderbus aus den USA, erläutert die weit gereiste junge Frau ihrer nicht ganz so weit gereisten signifikant älteren Interviewpartnerin milde. Das Dach voll mit Möbeln, Fahrrädern, Koffern. „Und an den Fenstern schaukeln die toten Tiere, und meistens sind das Hühner.“ Aus den Boxen dröhnt wahlweise Salsa- oder Latin, oder das eine und andere Kirchenlied. „Das“, grinst Lilly, „ist auch wichtig. Die fahren da nämlich wie die Henker.“ Ein Glück, dass auf den bunt bemalten Bussen ein „Jesus loves you“ in großen Lettern selten fehlt. Man tut halt, was man kann …
Zwei junge Frauen aus Düsseldorf stoßen zu Lilly Holzmann. Gemeinsam reist man Richtung Costa-Rica und später nach Nicaragua. „Da ist es erstens wunderschön. Und zweitens haben die einen anderen Umgang mit Frauen. Höflich und mit Respekt. Davor, da waren die Typen ganz oft ziemlich primitiv.“

Nervenkitzel

Drei Monate sind die Ladies zu dritt unterwegs. Es sei, sinniert Lilly, „irre, was in so einen Rucksack reingeht, und was man für so eine lange Zeit überhaupt braucht. Viel, ganz echt, ist das nicht.“ Abends suchen sie eine Bleibe – Nervenkitzel jedes Mal. Hat das Hostel noch einen Platz? Ein Bett für umgerechnet 2,50 Euro? Eine Hängematte für 1,50? „Das ist schon ein Abenteuer, du musst halt immer auf Sendung sein.“ Aber so zu reisen, glaubt sie, hat einen ungeheuren Vorteil: „Ich habe mich in dieser Zeit richtig kennen gelernt!“
Zurück in Deutschland dann der Kulturschock: „Vier feste Wände, du überlegst, was du anziehst. Das Wetter … Ich habe sechs Monate gebraucht, bis ich wirklich wieder hier war.“
Doch mittlerweile hat sie die Dinge wieder gerichtet. Sie arbeitet in einem Restaurant und einem Musik-Club. „Das ist klasse, wir sind alle befreundet.“ Und seit einem Jahr ist sie in einer Grundschule in Hombruch beschäftigt. Die Küken sind so alt wie „ihre“ Kinder damals in Panama. Lilly betreut sie bei den Hausaufgaben, beim Sport und bei der Leseförderung. Und sie hat die Zirkus AG aufgebaut, „die will ich unbedingt behalten.“

Die Kunst des Lebens

Dann nämlich, wenn die Zeit knapper wird. Wenn im Juli Lilly ihre Ausbildung zur „praxisorientierten Erzieherin“ beginnt. Lernen wird sie im Alice-Salomon-Berufskolleg in Bochum. Dort gibt es einen Leitspruch. ‚Die Kunst des Lebens lehren’, so geht der, und das ist ganz Lillys Ding.
Vielleicht wird sie später doch noch ein Studium zu Ende bringen. Grundschul-Lehramt, das könne es, glaubt sie, noch sein. „Seit Panama fahr ich total auf Kinder ab“, sagt sie, und ihre Augen leuchten dabei. „Es sind ja die schwächeren Geschöpfe, und sie brauchen Unterstützung. Wenn die Kleinen jemanden mehr als einmal sehen, der gut zu ihnen war, dann brauchen sie diese Person richtig.“
Sie, Lilly, will diese Person für die Kinder sein. Und sie weiß, dass sie selbst auch profitieren wird. „Die Sicht von Kindern auf die Welt hilft einem wirklich, die Dinge leichter zu nehmen.“ Keine Frage: Hier sitzt eine junge Frau, die – vielleicht damals in Panama – ihre Mitte gefunden hat.

Text: Ursula Maria Wartmann

Foto: Sabrina Richmann

Juni 2016