Sandra Dreise-Beckmann
Die Handschrift der Herzogin

Früher sagt sie und lächelt, „war ich ziemlich pingelig, so ist man eben, wenn man im Sternzeichen Jungfrau geboren ist. Aber man lernt dazu: Heute lass ich auch schon mal fünf gerade sein!“

Das mag man im ersten Moment gar nicht glauben. Die Wohnung tiptop und wunderbar aufgeräumt, die Bücherwand übersichtlich geordnet, die Bilder hängen im rechten Winkel. Und in dem glänzenden, schwarzen Konzertflügel kann man sich spiegeln. Sandra Dreise-Beckmann macht in der – selbstredend wunderbar aufgeräumten – Küche erstmal einen leckeren Kakao. „Zuverlässig und sorgfältig sein“, sagt sie und wärmt die Milch auf, „das war ein Muss, als ich jung war. Wenn man im Chor singt oder ein einem Orchester mitspielt, dann geht das gar nicht anders. Da muss eins ins andere greifen, damit das große Ganze dann stimmt.“

Die 48jährige promovierte Musikwissenschaftlerin weiß, wovon sie spricht. Sie hat im Kirchen- und Schulchor gesungen, sie war im Posaunenchor der Kirchengemeinde. Und sie hat im Schulorchester Trompete und Cello gespielt. Klavier, natürlich, hat sie auch gelernt. Auf dem Flügel in der Adlerstraße stehen hochkant ein paar Notenhefte; ganz aktuell ist Weihnachtliches angesagt.

Mächtige Woge aus Klang

Sandra Dreise wächst in Wulfen-Barkenberg auf. Das liegt bei Dorsten, das Münsterland ist nicht weit, auch Holland nicht; ihre Mutter stammt von dort, und dort verbringt die Familie während Sandras Kindheit und Jugend viel Zeit. „Winterswijk liegt ja quasi um die Ecke, und am Wochenende waren wir alle auf dem Campinglatz. Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins – meine Eltern, mein Bruder und ich. Alle in einer Reihe …“

Sie mag die Erinnerung an diese Familientreffen, aber sie mag auch die Erinnerung an diese große, mächtige Woge aus Klang und Musik, die sie in all diesen Jahren begleitet. Sie weiß noch genau, wie sie waren, diese Wochenenden in Oer-Erkenschwick, wo die Jugendherberge gleich das ganze Orchester beherbergt hat. „Wir haben von morgens bis abends geübt, und noch mal geübt und wieder – bis wir endlich ein großer, ganzer Klangkörper waren. Und wenn das soweit ist, das macht einen ganz einfach total glücklich!“

Trompete, Cello, Klavier

Damals ist Sandra 17; sie spielt mit Begeisterung Trompete, Cello, Klavier, sie singt im Chor. Und sie kann gut mit Menschen, auch mit den Kleinen, die noch viel lernen müssen. Der Musiklehrer fragt sie eines Tages, ob sie die Betreuung der Jüngsten übernimmt, und sie sagt sofort zu. „Da habe ich mich wirklich geehrt gefühlt. Und den Kleinen etwas beibringen, sie anleiten und unterweisen, das war schön. Ich habe damals schon gemerkt, dass Unterrichten etwas für mich ist.“

Zwei Jahre später hat sie das Abi in der Tasche. Noch ein Jahr später trifft sie auf ihren Mann. Das ist im Schlossgarten in Münster. Beide sind dort immatrikuliert, ihr Mann, erinnert sie sich fast dreißig Jahre später, „hat ein weißes Rennrad geschoben und mich nach dem Weg zum Schloss gefragt.“ Zwei Monate später sind sie ein Paar – und unzertrennlich bis heute. Sandra Dreise ist 26, als die Hochzeitsglocken läuten. Das junge Paar wohnt am Anfang auf 25 Quadratmetern in Roxel, „vier Jahre haben wir das so ausgehalten und da auch ein paar nette Feiern erlebt.“ Alf, damals noch ihr Freund, studiert Chemie, das belegt auch Sandra ein Semester lang und sattelt dann doch auf Musikwissenschaft um.

Akribische Forschungsarbeit

Ein Griff ins wohl sortierte Bücherregal, und da ist sie, die Doktorarbeit. Über die Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach verfasst Sandra Dreise-Beckmann von 1995 bis 2000 ihre Dissertation, erforscht akribisch im Rahmen eines Sonderforschungsprojekts das Leben und Wirken der 1739 geborenen Musikliebhaberin und Mäzenin. Hat in der Bibliothek in Weimar gar ein eigenes Zimmer, um in Ruhe zu arbeiten. Fährt immer wieder von Münster aus dorthin und entdeckt eines Tages – in Fachkreisen eine kleine Sensation – eine von der Herzogin verfasste Handschrift: musiktheoretische Abhandlungen, die, kostbar wie sie sind, in der Folge in einem Safe aufbewahrt werden. Ein Glück für die Nachwelt. 2004 verbrennen in Weimar bei einem Dachstuhlbrand zahlreiche Schriften und Noten von unschätzbarem Wert.

Während dieser Jahre ist sie an Münsters Uni-Bibliothek als wissenschaftliche Hilfskraft angestellt. Die winzige Wohnung hat längst einer größeren mitten im Geistviertel Platz gemacht.

Aachen ist auch schön

Und dann steht eine radikale Veränderung ins Haus. Ihr Mann bekommt, kaum hat er seinen Doktortitel in der Tasche, einen Job als wissenschaftlicher Assistent am Uniklinikum Aachen. Zwei Jahre zuvor ist er für ein Forschungssemester in Chicago. Seine Frau holt ihn dort ab, bleibt ein paar Wochen. „Gigantisch ist das da“, schwärmt sie noch im Rückblick. „Diese Atmospäre da, das hat mich total geflasht.“ Aber ihr Mann sei mehr der „my home is my castle“-Typ, sagt sie. „Und dann haben wir das doch nicht gemacht.“

Aachen ist auch schön.

Fünf Jahre leben sie in Herzogenrath. Sandra Dreise-Beckmann ist selbstständig im Bereich Personal- und Projektmanagement. Nebenbei, was meint: ehrenamtlich aber zeitaufwändig, ist sie Vorstandsvorsitzende der Musikschule Herzogenrath. „Das war ganz verrückt“, erzählt sie. „Auf dem Markt sprach mich eine Unbekannte an, ob ich Dr. Dreise-Beckmann sei. Die Frau war von der Musikschule und hatte von unserer Vermieterin gehört, dass es mich gibt …“

Das Leben hält bekanntlich immer mal wieder die eine und andere Überraschung bereit. Die nächste im Haus Dreise-Beckmann ist Hamburg. Der Umzug dorthin ist 2006 erneut dem Beruf ihres Mannes geschuldet: er findet eine neue Herausforderung im Bereich molekulare Neurobiologie. Das Paar wohnt in einer alten Villa nahe Hamburg: in Barmstadt.

Dortmund ruft

Hamburg ist solange attraktiv, bis Dortmund ruft. 2008 ist das, die Firma in der Westfalenmetropole hat einen Arbeitsplatz zu bieten, der wie angegossen zum Profil des Ehemanns passt. Noch einmal ein Umzug also, Ruhrgebiet diesmal. Hier ist es auch schön. Hier kann man bleiben.

Erst wohnen die beiden in der Gartenstadt, da, sagt Sandra, „war es uns ein bisschen zu spießig. Und als wir irgendwann kaufen und endlich mal sesshaft werden wollten, kam das Unionviertel gerade richtig.“ Die Zeitungsanzeige sagt ihnen zu. Sie kennen das Viertel nicht, schlendern ein paar Mal durch die Straßen, „da haben wir die Leute angequatscht, um zu hören, wie das hier so ist.“

Und – was haben die Leute gesagt?

„Die einen finden das total gut hier, die anderen nicht so. Für uns ist es okay. Für meine Eltern auch. Die sind vor einem Jahr von Wulfen in die Kuithanstraße gezogen.“

Beruflich hat Sandra Dreise-Beckmann sich in Dortmund noch einmal neu orientiert und hat doch einen Bogen zu damals geschlagen, als ihr 17jährig bewusst wurde, dass Unterrichten etwas für sie ist. Sie unterrichtet. Und sie betreut und begleitet Jugendliche und junge Erwachsene bei einem Bildungsträger in Lünen. Wenn sie einmal Abstand braucht, Erholung, frischen Wind um die Nase, dann geht es mit Alf nach Berlin, Paris, nach Prag – demnächst steht London an. Das Paar liebt sein schönes Zuhause im Unionviertel, das Kochen und Reden mit Freunden und Freundinnen. Aber wenn’s dann doch mal zu eng wird, dann gibt es sie ja: die kleinen Fluchten in die großen Städte.

 

 

 

Text: Ursula Maria Wartmann

Foto: Sabrina Richmann

 

Winter 2015