Sie ist 24 Jahre alt, ein paar Wochen noch, und sie wird ihren akademischen Abschluss in der Tasche haben. „Ergebnissteuerung in Nonprofit-Organisationen“ ist das Thema ihrer Masterarbeit, gerade hat sie sie abgegeben; sie habe, lächelt sie, ganz schön schnell studiert, „jedenfalls im Vergleich zu anderen.“
Geboren ist sie in Datong, das liegt ungefähr 300 Kilometer westlich von Peking. Im Stadtzentrum leben über 1,5 Millionen Menschen, noch einmal so viele an der Peripherie, und Jing bestätigt, was man hierzulande gerne mal im Fernsehen sieht: „Bei uns ist fast immer Smog. Wir gehen mit Mundschutz auf die Straße, und manchmal sieht man keine zwanzig Meter weit!“
Jing Zhao liebt Hip Hop, Tischtennis und Malen. Und sie liebt Deutschland. Sie hat viele Gründe dafür, einer ist das Umweltbewusstsein, das in ihrem Heimatland häufig noch immer ein Fremdwort ist. Sie liebt die Freundlichkeit, mit der man ihr hier begegnet: „Wenn ich Hilfe brauche, kommt immer jemand!“ Und sie schätzt in Deutschland, was sie bei ihren Landsleuten in China vermisst: „Hier sind die Leute frei und selbständig und individuell. Bei uns ist das anders: Eigenständige Gedanken sind nicht so gefragt. In den Familien zum Beispiel ist das so: Die Eltern bauen den Weg. Und die Kinder gehen darauf.“
Ausnahmetalent
Jing Zhao ist anders. Sie will die ausgetretenen Pfade nicht, sie will eigene Wege gehen. Jing Zhao ist begabt, ein Ausnahmetalent. Mehrere Stipendien während des Grundstudiums an der Shanxi University of Finance & Economics und der Ehrentitel „Herausragende Studentin“ zeugen davon: Hier ist eine junge Frau unterwegs, die definitiv besonders ist.
Im Sommer 2012 kommt sie nach Deutschland. Studiert in Essen, hat nach einem Jahr den Bachelor in der Tasche. Hat ihre Erfahrungen im Ausland gemacht. Soll nun zurückkommen nach China. Den Weg dort weitergehen, den die Eltern für sie vorbereitet hatten. Aber Jing Zhao will nicht. Sie will frei sein, selbständig und individuell. So wie die Deutschen.
Sie zahlt ihren Preis dafür.
Kein freundliches Lächeln mehr, als sie erzählt. Davon, dass ihre Eltern versuchen, sie unter Druck zu setzen. Die Zahlungen einstellen, als sie bei ihrer Haltung bleibt und dann – noch schlimmer – auch den Kontakt: „Sie waren so böse auf mich, dass sie nicht mehr mit mir gesprochen haben. Erst als ich Leistung gezeigt habe, haben sie sich endlich überzeugen lassen, dass alles gut so ist, wie es ist.“
Weihnachten bei McDonalds
Im Oktober 2013 kommt sie nach Dortmund. Arbeitet hart: Für die Uni. Und für ihren Lebensunterhalt. Den verdient sie bei McDonalds. Pommes salzen, Burger eintüten. Tische abwischen, Kasse machen, „in den Semesterferien bin ich da jeden Tag gewesen.“ Weihnachten und Silvester, Feiertage überhaupt, haben es der jungen Chinesin angetan. Da nämlich gibt es bei McDonalds den doppelten Stundenlohn und dann noch die Spätschicht: Plus fünfzehn Prozent! Da reicht das Geld sogar für den Heimflug einmal im Jahr. Die Eltern, die Großeltern und der jüngere Bruder warten da, „der ist erst vierzehn“, verrät Jing augenzwinkernd, „aber schon 1,83 groß.“
Ihre Studentinnenbude in der Rheinische Straße ist groß und gemütlich: hohe Decken, ein opulenter Bettüberwurf. Bücher, Bilder, die Klamotten hängen ordentlich nebeneinander auf einem Kleiderständer. Das Bad und die Küche teilt sie sich mit zwei jungen Deutschen, die vor einiger Zeit neu eingezogen sind. „Die können nicht kochen“, verrät Jing, „da gibt es immer nur Pizza.“ Viel Kontakt gibt es nicht mit den neuen Mitbewohnern, schade sei das, findet sie und hängt den „guten alten Zeiten“ nach. Da teilte sie mit einem Franzosen und einem Russen die WG, Studenten beide, und war von Pizza und Co. Lichtjahre entfernt. „Wir haben jeden Dienstag zusammen gekocht. Mal russisch, mal französisch, und dann war ich wieder dran! Für die Vorbereitungen habe ich meistens drei Stunden gebraucht.“
Patenschaft
Gottlob gibt es Günter Schöning, der ist zwar kein Student mehr und schon Mitte siebzig, aber mit ihm geht sie essen, mit ihm macht sie Radtouren, und mit ihm war sie neulich an der Mosel. Günter Schöning, Ex-Banker aus Essen verschrieb sich als rüstiger Pensionär einem Patenschaftsprogramm. Studierende aus dem Ausland werden von Menschen wie ihm ehrenamtlich unter die Fittiche genommen. „Ich habe mit ihm auch Schwimmen gelernt“, sagt Jing Zhao, „und natürlich ganz viel von der deutschen Kultur.“ Kirchen, Museen, eine Reise an die Nordsee. Gespräche, auch mal tröstende Worte. Natürlich bringt er sie zu den Heimreisen nach China samt Koffer auch zum Flieger nach Düsseldorf. „Und als ich hier eingezogen bin, hat er mir ein paar kleine Möbel und Besteck mitgebracht.“
Möglich macht es das Patenschaftsprogramm der Fachhochschule für Ökonomie und Management in Essen, wo Jing seinerzeit ihren Bachelor machte. Dass es zwischen dem ehemaligen Banker und der jungen Frau aus China so wunderbar funktioniert, liegt auch an den Sternzeichen, glaubt Jing Zhao. In China ist sie Ziege, aber hierzulande ist sie Löwe, „und das ist Herr Schöning auch.“
Man sieht sich einmal pro Woche, und seit auf Jing Zhaos Bewerbungen, die sie seit dem letzten November schreibt („An die hundert waren es schon!“) immer wieder Absagen ins Haus flattern, muss oft getröstet werden. Jing sieht plötzlich sehr verzweifelt aus, als sie ihre Situation schildert: beste Zeugnisse, Empfehlungen von Bekannten, einer der Professoren hat sich persönlich für sie eingesetzt und – nichts! Das, sagt Jing Zhao leise, könne einen schon sehr fertig machen. Es sei schwer, den Mut nicht zu verlieren, „aber auch wenn alle Menschen auf mich verzichten wollen: Ich gebe mich selbst nicht auf!“
Sie ist tapfer, sie ist taff, sie ist begabt, und sie ist besonders: Und mit dem Paten hat sie etwas Sensationelles ausgeheckt. Riesling! Wenn schon niemand auf die Bewerbungen reagiert, wird Jing Zhao ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, und Günter Schöning hilft dabei.
Zur Weinlese nach Trier
Die Idee ist so einfach wie genial und basiert auf einer schlichten Frage. Muss der Mensch in China unbedingt Rotwein aus Frankreich trinken? Die Antwort lautet: Nein. Er kann auch Riesling aus Deutschland trinken. Er sollte es sogar! Dass der Riesling lecker ist, davon will Jing Zaoh ihre Landsleute überzeugen. Gerade eben war sie mit ihrem „Paten“ eine Woche an der Mosel. Winzer besuchen, Kontakte knüpfen, Netzwerke aufbauen. Ein kleines Team in China gibt es schon: zehn Leute, die auf tausend Flaschen Riesling warten und darauf, sie unters Chinesenvolk zu bringen.
Könnte klappen, die Idee. Dann ist Jing Zhao irgendwann eine gemachte Frau. Das Zeug dazu hat sie. Sie geht das Thema unaufgeregt und sehr pragmatisch an. Und sie will es genau wissen: Von der Pike auf. Deshalb reist sie im Oktober nach Trier. Zur Weinlese, sagt sie, und endlich ist wieder ein zuversichtliches Lächeln auf ihrem Gesicht. „Sieben Euro die Stunde und Unterkunft und Essen. Da kann ich den ganzen Prozess dann so richtig kennen lernen.“
Und später? China oder Deutschland, weiß sie denn, wo sie künftig leben will? Das, sagt sie, sei völlig offen. Abhängig von der Arbeit. Und ein bisschen auch davon abhängig, wo sie dem Mann ihres Lebens begegne. Sollte es ein Deutscher sein, würden die Eltern irgendwann auch nach Deutschland ziehen. „Sie wollen ja ihre Enkel aufwachsen sehen. Die Eltern ziehen immer den Kindern nach. Das ist bei uns so …“
Text: Ursula Maria Wartmann
Foto: Sabrina Richmann
Herbst 2015