Multivisionär
Ein aktueller Bericht zu den Urbanisten

„Es macht unsere Stärke aus, dass wir aus unterschiedlichen Perspektiven denken können“, sagt Florian Artmann, Urbanist der ersten Stunde. Vor sechs Jahren gründete sich die Initiative in Dortmund. Anfangs suchte ein knappes halbes Dutzend Idealisten neue Antworten auf die Frage, wie Stadträume idealerweise gestaltet sein sollten, um die Lebensqualität der Bewohner langfristig zu erhöhen. Seither ist viel passiert.

Manchmal kann es hilfreich sein, Wikipedia zu Rate zu ziehen. „Die Urbanistik“, heißt es da, „ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich der Erforschung und Beschreibung von Städten unter sozialen, geographischen, historischen, ökologischen und städtebaulichen Gesichtspunkten widmet. Auch politische, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen stehen im Forschungsinteresse. Damit vereint die Urbanistik Aspekte der Geistes-, Natur- und Ingenieurswissenschaften sowie der Sozialwissenschaften.“ Das klingt nach komplexen Theoriegebäuden. Die Bauhaus-Universität zu Weimar bietet einen ‚Bachelorstudiengang Urbanistik‘ an. Artmann lacht. Und winkt ab. „Über den Namen haben wir damals nicht groß nachgedacht. Wichtig war, es sollte nach ‚urban‘ oder ‚Urbanität‘ klingen. Und die Endung auf ‚…isten‘ gefiel uns. Darauf konnten wir uns sofort einigen, denn eine Gruppe, die sich ‚Irgendwas mit isten‘ nennt, das ist immer eine Gruppe, die sich extrem für etwas einsetzt.“
Durchaus vor theoretischem Hintergrund agieren die Urbanisten praxisnah und alltagstauglich. Ihren Schwerpunkt sahen sie zunächst im Aneignen von Räumen. Nicht von ungefähr liegen die Wurzeln der Gründungsmitglieder in der Graffitiszene: Stadtraumverschönerung von unten ist Prinzip. Zum Credo der Urbanisten gehört es, die Menschen vor Ort entscheiden zu lassen, wie die Welt vor ihrer Haustür gestaltet sein soll. Dieser Philosophie folgend dürfen entsprechende Planungen nicht in die Hände externer Büros gelegt werden.
Ein erstes Projekt, mit dem sie im Unionviertel auf sich aufmerksam machten, war das Verschönern von Stromkästen. Ihr Aufruf zur Teilnahme richtete sich gleichermaßen an Privatleute, an die lokale Ökonomie und an Institutionen, angefangen beim Kindergarten bis hin zum Seniorenwohnheim. Angesprochen wurden interessierte Laien ebenso wie ansässige Künstler. Eine gemeinsame Ausstellung wurde organisiert und eine kompetente Jury berufen. Kontakte wurden geknüpft, die bis heute halten. Kurz gesagt, es war ein optimaler Start für die Initiative.
„Wir als Urbanisten glauben, dass man eine Stadt nur dann verändern kann, wenn man sich an die verschiedenen Akteure in ihrer Verantwortung wendet. Wenn wir ein Projekt anschieben, behaupten wir in unserem Auftreten nicht, Experten zu sein. Wir sagen: ‚Ihr seid die Experten! Wir können euch ein Angebot machen, ihr schließt euch zusammen, wir begleiten euch anschließend bei dem Prozess‘. Die Leute sollen das Gefühl haben, dass es ihre Angelegenheit ist. Im besten Fall wird es zum Selbstläufer. Wichtig ist, dass die Initiative nachhaltig ist. Wir haben kein Interesse daran, kurzfristige Projekte aufploppen zu lassen.“
In eigener Sache hat sich die Gruppe gleichermaßen Zeit gelassen. Drei Jahre dauerte allein die Findungsphase. Eine wichtige Entscheidung, die währenddessen getroffen wurde, betraf die Organisationsform. Beschlossen wurde, sich als gemeinnütziger Verein zu konstituieren, keine auf finanziellen Gewinn hin ausgerichtete Firma zu gründen. Außerdem ist das Team über die Jahre zusehends universeller geworden. Die Urbanisten können mittlerweile auf das Wissen von Raumplanern, Biologen, Gärtnern, Künstlern, Sozialwissenschaftlern und Architekten zurückgreifen. „Es war klar, wir brauchen verschiedene Disziplinen, unser Anliegen durchzusetzen. Dass wir uns tatsächlich um Bereiche erweitert haben, an die wir bei der Gründung nie gedacht hätten, ist phantastisch. Ich staune regelmäßig, was man sich ausdenken kann, wenn man mit Leuten zusammenarbeitet, die andere Hintergründe haben.“
Zu den Beispielen, die Artmann anführt, zählt das ‚Street Art Bingo‘. Die Idee zu diesem Spiel lieferte Daniel Parlow, der als kulturwissenschaftlicher Praktikant zu den Urbanisten stieß. Über das Bingo, das wie alle Urban Games grundsätzlich als Strategie der Raumaneignung in Städten dienen kann, hätten selbst viele Alteingesessene ihr Viertel neu entdecken gelernt. Desweiteren nennt er ein Arbeitstreffen unter dem Titel ‚Urbane Möglichkeitsräume‘. Gefördert im Rahmen des EU-Projekts SEiSMiC wurde hier mit Anwohnern über die zukünftige Nutzung des brachliegenden HSP-Areals diskutiert. Oder, drittes Exempel, der Gestaltungsworkshop ‚Create Your Skateplaza‘. In Kooperation mit der Skateboardinitiative Dortmund wurde dabei der Platz vorm ‚U‘ für Skater optimiert. Gemeinsam wurden Rampen gebaut, Kurse geleitet und Wettbewerbe durchgeführt.
Im Wesentlichen sind es drei Felder, auf denen die Urbanisten aktiv werden: Stadtentwicklung, Urban Gardening und Kunst. „Bei einigen Aktivitäten sind wir mit unserer bisherigen Infrastruktur an Grenzen gestoßen“, sagt Artmann. „Die Skateboardrampen oder die Hochbeete fürs Urban Gardening haben wir größtenteils mit Hobbywerkzeugen zusammengeschraubt, oftmals im Hof hinter unserem Büro an der Rheinischen Straße.“ Die Vorhaben der Urbanisten größer und anspruchsvoller geworden. Von daher sind sie froh, seit kurzem Mieter einer Werkstatt auf dem Union Gewerbehof zu sein, wo sie mit einem Tischlermeister zusammenarbeiten. Auch in Hinblick auf die Upcycling-Angebote des Vereins ist das ein konsequenter Schritt. „Upcycling ist bei uns ein ganz wichtiges Thema. Wer will, kann in unserer Werkstatt unter Anleitung vom reinen Konsumenten zum echten Selbermacher werden.“

Längst sind die Urbanisten über Dortmund hinaus aktiv. Derzeit beteiligen sie sich an zwei großen, mehrjährigen und ruhrgebietsweit ausgeschriebenen Forschungsprojekten. Unvorhergesehen entsprechen sie dann in mancher Hinsicht doch der eingangs zitierten Wikipedia-Definition.

Text: Wolfgang Kienast
Fotos: Björn Hickmann, Florian Artmann

Februar 2107