Westpassage – Silvia Liebig
Soundpatrouille

Willkommen, Zuhause.
Man sollte glücklich sein, wenn man in einem Wald steht, zwischen Tieren und Bäumen. Auch, wenn es vielleicht kalt ist. Man sollte glücklich sein, dass man als „Artist in Residence“ hier sein darf, „weit weg von allem“, wie es auf der Website dieses Schweizer Künstlerhauses heißt. Man sollte sich produktiv fühlen, denn dafür ist man ja hier: für die Kunst.

Silvia Liebig stand 2011 im Schweizer Bergwald und fühlte sich merkwürdig. Etwas fehlte ihr zu ihrem Glück, zu ihrer Produktivität als Künstlerin. Kein Gegenstand, kein einzelner Mensch – es fehlte ein Gefühl. Das Gefühl, hier zu sein, und es ist gut so. Ein Wohlgefühl: das Gefühl Zuhause, das Gefühl Heimat.

Was ist das – Heimat?
Heimat ist nicht einfach nur ein Ort, an dem man ist oder nicht ist, erkannte Silvia Liebig. Sie schaltete ihren Computer ein und sah, wer alles online war: so viele Freunde und Bekannte aus der ganzen Welt. „Plötzlich hatte ich das Gefühl: Ich bin zuhause. Ich konnte wieder arbeiten, weil ich hatte, was ich brauche.“ Immer noch „weit weg von allem“, aber doch wieder ganz nah dran an der Heimat.

Welcher Raum fällt Ihnen ein, wenn Sie den Ausdruck „Zuhause“ hören?
Diese Frage stellte Silvia Liebig 48 Menschen im Dortmunder Unionviertel. Weil sie wissen wollte, wie andere Menschen das beschreiben, was wir „Heimat“ oder „Zuhause“ nennen. Mit ihrem Aufnahmegerät traf sie Männer und Frauen, Jugendliche und Senioren, langjährige Dortmunder wie Gäste – und alles dazwischen. Alle antworteten auf die gleichen Fragen, wie: Können Sie sich erinnern, was Sie gesehen haben, wenn Sie zu Hause aus dem Fenster geschaut haben? Ist für Sie ein bestimmter Geruch/Geschmack/Sound mit dem Begriff „Zuhause“ verbunden? Was würden Sie heute als Ihre Heimat bezeichnen?

Die Audioaufnahmen dieser Interviews sind im Internet auf soundpatrouille.de und in der Ausstellung zu hören. Die Interviewpartner haben in ihrer Muttersprache erzählt: auf Deutsch, Türkisch, Schlesisch, Tschechisch, Französisch, Hebräisch und in vielen weiteren Sprachen. Keine zwei Antworten gleichen sich. In ihrer Vielfalt konservieren sie auf beeindruckende Weise die Individualität des Gefühls Heimat. Aber gleichzeitig werden Strukturen, Gemeinsamkeiten, Tendenzen deutlich. Beidem – der Individualität und den Gemeinsamkeiten – ist Silvia Liebig künstlerisch auf der Spur.

Was ist die Essenz der gesammelten Heimatgedanken?
„Ich möchte etwas Universelleres zeigen als eine persönliche Heimat“, sagt Silvia Liebig. „Ein Zuhause, das konkret genug ist, um es zu verstehen – und abstrakt genug, damit jeder sich darin wiederfindet.“ Die künstlerischen Wege zu diesem Ziel ergeben sich für sie aus dem Audio-Material: Beim Anhören, beim Schneiden sind Bilder in ihr entstanden, die sie mit Bleistift, Buntstift, Tintenstift zu Papier gebracht hat. Zeichnungen eines Systems von Heimatplaneten, mit dem man nun einen Ausstellungsraum tapezieren kann. Mit ihnen hat Silvia Liebig den Aussagen der Interviewpartner eine visuelle Ebene hinzugefügt: ihre eigene Interpretation, ihr Kopfkino.

Die Audios bewahren die Erinnerungen der Interviewpartner wie in einer Zeitkapsel, machen sie unangreifbar und ewig. Sie sind festgehalten. Silvia Liebigs visuelle Interpretation dagegen transponiert die Erinnerungen auf eine neue Ebene.

Weite Reise bis nach Hause
Doch auch mit der Planetenkarte ist die Reise noch nicht zu Ende: Die Künstlerin denkt weiter, in verschiedene Richtungen; erprobt, was man aus dem neu entstandenen Amalgam von Audios und Zeichnungen noch machen kann – immer mit Respekt vor dem Material. Aus dem Gesammelten wird Kunst. Kunst, die Gespräche anregt, Denkanstöße gibt und dem Besucher der Ausstellung erlaubt, sich intensiv neuen Eindrücken auszusetzen. Doch eins will Silvia Liebig nicht: Eine einfache Antwort geben auf die Frage nach Heimat und Zuhause: „Je unbenannter dieses Gefühl ist, desto wahrer bleibt es.“

Über die Künstlerin
Silvia Liebig (*1966 in Dortmund) liebt es, raus in die Welt zu flüchten und mit neuen Anregungen zurück zu kommen. Projekte und Ausstellungen führen sie seit 1992 ins Ausland, ebenso wie in den Rest von Deutschland. Ihren künstlerischen Ideen folgt sie kompromisslos und lässt sich von ihnen zu Medien, Material und Methode führen. Gerade die charakteristischen Brüche zwischen Inhalt und Erscheinungsform machen ihre Arbeiten spannend und herausfordernd.