Den mehrgeschossigen Backsteinbau an der Huckarder Straße, gleich linker Hand wenn man den Union-Gewerbehof betritt, nimmt man eher beiläufig wahr. Was genau sich hinter der efeubewachsenen Fassade verbirgt, dürfte nur wenigen Passanten oder Besuchern des Hofes im Detail bekannt sein – oder besser: nur wenigen hörenden. Hörgeschädigten Menschen dagegen ist das „Zentrum für Gehörlosenkultur e.V.“ (ZFG) ein fester Begriff. Geschäftsführer Joachim Welp sagt nicht ohne Stolz, in seiner Ausdifferenziertheit und aufgrund der Komplexität der angebotenen sozialen Dienstleistungen wäre es vielleicht einzigartig in Deutschland.
Das ZFG gründete sich aus bürgerlichem Engagement. 1985 war das, mittlerweile kann im Verein also auf eine 30-jährige Geschichte zurückgeblickt werden. „Hörende Eltern gehörloser Kinder haben sich Sorgen gemacht, was mit ihren Kindern geschieht, wenn die Schule absolviert ist und sie damit den geordneten Rahmen verlassen. Wenn sie allein auf sich gestellt sind. Die Frage war, an wen sie sich wenden können, gesetzt den Fall, dass sie einmal Rat benötigen“, erklärt Herr Welp. Eine berechtigte Frage, vor allem, weil mit einer Hörschädigung meist weitere Beeinträchtigungen ursächlich zusammenhängen, die es den Betroffenen oft schwer oder sogar unmöglich machen, ohne fremde Hilfe am sozialen Leben teilzunehmen.
„Als Hörende können Sie mit nahezu jedem Problem, das Ihnen auf den Nägeln brennt, eine Beratungsstelle in Ihrer unmittelbaren Nähe aufsuchen. Es ist egal ob sie zur Bürger-, Ehe- oder Schuldnerberatung gehen oder in die Verbraucherzentrale. Es existiert ein abgestuftes, breit aufgefächertes System von Institutionen, die Ihnen vor Ort ihre Dienste anbieten. Als Hörgeschädigter haben Sie diese Möglichkeit nicht.“ Hatten die initiierenden Eltern anfangs die Zukunft der eigenen Kinder im Blick, sollte sich bald zeigen, dass der Bedarf an Beratung insgesamt wesentlich größer war als sie es erwartet hatten. Hinzu kam, dass ihr Projekt aufgrund seiner Einzigartigkeit binnen kurzem überregional wahrgenommen wurde. Herr Welp weiß von Familien, die aus anderen Bundesländern ihren Wohnsitz nach Dortmund verlegt haben, weil hier das ZFG seinen Sitz hat. In der Folge entwickelte sich die ursprünglich als ambulante Kurzzeitberatung gedachte Initiative innerhalb weniger Jahre zu einem fassettenreichen Angebot – von sozialpädagogischer Familienbetreuung über rechtliche Beratung bis hin zur Suchthilfe.
Die Anfänge des ZFG lagen an der Lindemannstraße im Dortmunder Kreuzviertel. Größere Räumlichkeiten, der wachsenden Klientenzahl wegen bald erforderlich, wurden am Union-Gewerbehof gefunden. Der sukzessive Umzug begann 1994, 1998 konnte hier die Wiedereröffnung gefeiert werden. „Auf dem Hof, aber auch im allgemeinen Sprachgebrauch werden wir oft `das Gehörlosenzentrum´ genannt“, sagt Herr Welp. „Das spricht sich natürlich leichter aus als ein gestelzt klingendes `Zentrum für Gehörlosenkultur e.V.´. Die einfache Bezeichnung beschreibt allerdings nicht wirklich, was bei uns geleistet wird. Und selbst das Wort `Gehörlosenkultur´ kann in die Irre führen, weil es zwei verschiedene Aspekte beinhaltet. Einer der beiden ist korrekt, der andere existiert bei uns nicht mehr. Korrekt ist, dass wir die gehörlosen Menschen mit ihrer eigenen Sprache als eigene Kultur wahrnehmen. Das ist eine Facette des Kulturbegriffs. Die andere meint ein Kulturzentrum in dem Sinn, dass sich noch heute Musik- oder Theatergruppen bewerben, weil sie hier auftreten möchten. Da müssen wir leider passen.“
Die möglichen Missverständnisse hängen unter anderem mit der Geschichte des Zentrums zusammen. Von Anfang an stützt sich das ZFG auf zwei Säulen: der Zusammenschluss der hörenden Eltern und der Stadtverband der gehörlosen Bürger Dortmunds. Den hatten die Eltern gleich kontaktiert, als sie ihre Interessengemeinschaft ins Leben riefen. Er ist der Dachverband aller ortsansässigen Gehörlosenvereine, also Sport-, Karneval-, Skat- und Romméverein, um nur einige zu nennen. Die einzelnen Vereine haben mit dem ZFG grundsätzlich wenig zu tun, stellen aber über ihren Dachorganisation einen der Grundpfeiler dar.
„Was den Charakter von kulturellen Veranstaltungen betrifft, hatten die Vereine und die Eltern voneinander abweichende Vorstellungen“, sagt Herr Welp. „Das war ein Problem von mehreren. Anfangs wurde dennoch versucht, ein Programm auf die Beine zu stellen, wir verfügen ja über eine auf den ersten Blick geeignete Halle im Erdgeschoss, Lärmbelästigungen führten jedoch zu Ärger bei den Anwohnern. Parties können hier nicht gefeiert werden, weil bei der Ausstattung der Räume niemand an Schallschutzmaßnahmen gedacht hatte. Das war wohl ein Fehler, aber sie wurden nicht in Erwägung gezogen, weil es um ein Haus für Gehörlose ging. Allerdings wären wir auch finanziell gar nicht in der Lage, ein Kulturzentrum konventioneller Art zu bewirtschaften. Auf dem Gewerbehof wird aber unabhängig davon zur Zeit diskutiert, welche Bedeutung das Zentrum im Union-Viertel haben und welche Rolle unsere Halle dabei spielen könnte.“
Gegenwärtig arbeiten 44 Personen im ZFG, 40 davon sind Pädagogen. Sie beherrschen die Deutsche Gebärdensprache, unterliegen der Schweigepflicht und betreuen aktuell etwa vierhundert Klienten. Meist reicht die allgemeine Kurzzeitberatung von durchschnittlich zwanzig Minuten Länge, anstehende Fragen zu beantworten. Einzelne Klienten kommen regelmäßig, manchmal sogar mehrmals in der Woche. Das ist nicht weiter bemerkenswert, es liegt ständig etwas an, Kleinigkeiten, die sich schnell bereinigen lassen. Wichtig ist, dass die Berater ein Gespür entwickeln, zu registrieren, wenn eine Krise zu eskalieren droht. „Unsere Leute können nicht nur gebärden, sie sind in der Lage, sich gebärdlich auf das jeweilige Niveau ihres Klienten einzulassen. Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass jemand mit einem innerfamiliären Gestensystem zu uns kommt, weil er nie etwas anderes gelernt hat, weil er nie aus dem engen Kreis seiner Angehörigen rausgekommen ist. Missverständnisse sind da nicht immer zu vermeiden und lassen sich nur durch häufiges Nachfragen klären. Man darf nicht außer acht lassen, dass viele Hörgeschädigte im Weiteren an Depressionen leiden oder schwer traumatisiert sind. Der Mensch denkt in seiner Muttersprache und reflektiert in der Muttersprache alles, was um ihn herum geschieht, parallel zum eigentlichen Hören. Wer aber von Geburt an hörgeschädigt ist, wächst ohne Spracherwerb auf. Soziologisch gesprochen fehlt ihm die innere Form symbolischer Repräsentation. In der Folge hat er es bei seiner Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung ungleich schwerer. Mit der Gehörlosigkeit gehen oft seelische Erkrankungen einher.“
Therapeutische Maßnahmen zählen jedoch nicht zum Leistungsspektrum im ZFG. Die Arbeit beschränkt sich auf die psychosoziale Beratung. Sollte sich in deren Rahmen allerdings herausstellen, dass sich ein Klient im Alltag mit Problemen konfrontiert sieht, die er mittel- oder langfristig nicht mehr bewältigen kann, vermittelt das ZFG geeignete Hilfsangebote, angefangen bei ambulanter Therapie bis hin zur Vermittlung einer passenden stationären Unterbringung, sollte diese tatsächlich unumgänglich sein.
Hinsichtlich der Frage, ob sich ein hörgeschädigter Mensch trotz seines Handikaps vergleichsweise normal am sozialen Leben beteiligen kann, hängt viel vom Elternhaus und der unmittelbaren Umgebung ab und der Möglichkeit, die Gebärdensprache zu erlernen. „Bedauerlicherweise ist die hierzulande erst seit vierzehn Jahren als Sprache anerkannt“, sagt Herr Welp. „Obwohl es sich um ein visuell orientiertes Zeichensystem handelt, ist es mittlerweile wissenschaftlich belegt, dass im Gehirn beim Gebärden die selben Bereiche aktiviert werden wie beim normalen Sprechvorgang. Das muss man natürlich wissen. Leider kann es noch immer passieren, dass ein hörgeschädigtes Kind automatisch in eine Schule für Lern- oder geistig Behinderte abgeschoben wird. Es wird künstlich verdummt. Die Erfahrung machen wir. Wenn es dann zu uns kommt und wir mit ihm gebärden, treten in der Vergangenheit gemachte Fehleinschätzungen oder Versäumnisse oft zutage.“ Die professionelle Beratung im ZFG kann helfen, diese auszubügeln. Aber auch, wer einfach „nur“ hörgeschädigt ist, findet hier Hilfe – und sei es lediglich bei der technischen Assistenz in puncto Hörgerät.
Text: Wolfgang Kienast
Foto: Daniel Sadrowski
26.10.2015