Eine Reise.Als am 16. Juni 2016 die Ausstellung „Westpassage“ in einer kleinen Halle am Union Gewerbehof eröffnet wurde, war das keine gewöhnliche Vernissage. Nicht für die Künstler, nicht für das Publikum und mutmaßlich ebenso wenig für viele Bewohner und Institutionen im Quartier. Entsprechend groß war das Interesse, entsprechend greifbar ist noch immer der Nachhall der vielschichtigen Aktion.
Der „Westpassage“ liegt der Gedanke zugrunde, das Leben des Menschen beziehungsweise seiner Gesellschaften als „Reise“ zu begreifen. Ein Bild, das zur Annäherung ans Unionviertel tauglich ist, an einen Stadtteil, der auf unterschiedliche Arten und Weisen als Transitraum funktioniert. Mit solcherlei Assoziationen spielend haben sich sonach acht individuell arbeitende Künstlerinnen und Künstler auf Spurensuche begeben und – dabei oft mit einzelnen Menschen, Gruppen oder Einrichtungen im Sektor kooperierend – ein fundiertes, komplexes Bild des lebendigen urbanen Soziotops gezeichnet. (Auf unionviertel.de/westpassage sind exemplarische Arbeiten in Wort und Bild dokumentiert.)
Das Unionviertel ist dicht besiedelt und zeichnet sich durch eine bunte Einwohnerschaft aus. Hinsichtlich seiner räumlichen Ausdehnung ist es ein überschaubares Quartier. Die Aktivität der Gruppe erstreckte sich über mehrere Monate, hatte mit Interviews, Porträtfotografie und Gruppenarbeiten teils notwendig kooperativen Charakter und blieb den Anwohnern selbstredend nicht verborgen. Auch deswegen nicht, weil mit Institutionen wie beispielsweise dem Haus der Vielfalt oder dem Adler-Kiosk wichtige Multiplikatoren einbezogen waren. Zur Vernissage fand sich somit nicht nur die erwartbare Kulturszene ein, zu den Besuchern zählten viele Menschen, die sonst als wenig kunstaffin gelten. Die Künstlerin Silvia Liebig schätzt, dass etwa ein Drittel aller Leute, die in welcher Form auch immer am Entstehungsprozess einzelner Arbeiten beteiligt waren, der Einladung auf den Union Gewerbehof folgten – trotz wichtigem Fußball-Länderspiel am selben Abend.
„Eine gute Resonanz trifft aber nicht nur für die Eröffnung zu“, meint der Fotograf Daniel Sadrowski. „Schon im Vorfeld der eigentlichen Ausstellung sind Jungs gekommen, die parallel bei Stephanie Brysch (ihre partizipative Arbeit trägt den Titel „Stadt-Garten“) mitgemacht haben. Es gab Delegationen aus dem Haus der Vielfalt. Ein Verein aus der tamilischen Community ist gekommen. Die Leute waren neugierig, wie ihr Viertel dargestellt wird. Es hat eine außergewöhnliche, intensive Auseinandersetzung stattgefunden. Wir haben dabei Feedback zu unseren eigenen Arbeiten erhalten und auch zu denen der Künstlerkollegen.“ „Weil es zahlreiche Zugänge und Anknüpfungspunkte gab“, ergänzt Liebig. „Durch die Verschiedenartigkeit der Arbeiten hatten wir natürlich ein sehr breites Spektrum im Publikum. Kindergartenkinder, Frauengruppen, die ehemaligen Arbeiter der HSP (Hoesch Spundwand und Profil GmbH). Viele haben die Ausstellung besucht, um zu sehen, was andere Viertelbewohner gemacht haben. Die meisten hatten das Gefühl, dazu beigetragen zu haben, dass es die Ausstellung überhaupt gibt.“
Die Verbundenheit mit dem Stadtteil ist im Unionviertel generell hoch. Ein Projekt wie die „Westpassage“ hilft, gesellschaftliche Gruppen übergreifend diesen Gemeinschaftsgeist weiter zu stärken. Es mag sich banal anhören, ist es aber ganz entschieden nicht: jeder kann, angestoßen durch adäquate Initiativen, sich selbst und seine Umgebung besser kennen und verstehen lernen.
Die benötigen Rückendeckung. Wie bei der „Westpassage“. Entscheidend für die Qualität der entstandenen Arbeiten und, davon abhängend, die insgesamt positive Außenwirkung war nicht zuletzt die finanzielle Unterstützung. „Damit war ein Freiraum gegeben, der absolut inspirierend war“, erklärt Liebig. „Er hat geholfen, dass ich mich konzentriert meinem Thema widmen konnte. Ich lebe und arbeite im Unionviertel, aber jetzt hatte ich die Möglichkeit, Einblicke ins Quartier und das Leben der Leute vor Ort zu bekommen, die ich sonst nie gehabt hätte. Während der Arbeit ist mir bewusst geworden, wie das Projekt selbst zur Netzwerkbildung beiträgt. Ich vergleiche das gern mit einem Pilz. Oben ist die Spitze sichtbar und unterhalb bilden sich komplexe Strukturen heraus. Diese vervielfältigen sich nach entsprechenden Anreizen und werden noch verzweigter.“ Über die Ausstellung hinaus, nebst dem begleitenden Katalog als konkret sichtbare Ergebnisse, konnte die „Westpassage“ also unterstreichen, dass gezielte Kulturförderung ein nicht zu unterschätzender, weil effektiv und langfristig wirkender Hebel zur Unterstützung gesellschaftlicher Prozesse sein kann.
Auch Monate nach der Vernissage ist weiterhin Euphorie spürbar – wobei ein Wermutstropfen freilich nicht zu leugnen ist. Die „Westpassage“ erfüllt sämtliche Anforderungen, die von offizieller Seite gern mit einem solchen Projekt verknüpft werden: eine Initiative „von unten“, aus einem Stadtviertel gewachsen, auf lokalen Gegebenheiten basierend, von hoher sozialer Tragweite. Der Union Gewerbehof ist Impulsgeber und treibende Kraft für die kreative Szene im Viertel und von daher als Veranstaltungsort geeignet. Künstler und Publikum hätten sich dennoch gefreut, wären die Arbeiten im „U“ präsentiert worden.
Zudem konnte aus Platzgründen am Hof letztlich nur ein Bruchteil der entstandenen Arbeiten gezeigt werden. Das ist bedauerlich. Doch vielleicht hält die Zukunft Optionen bereit – für besagte ungesehene Werke oder aber im Rahmen eines Folgeprojekts. Die Gruppe treibt es jetzt zu neuen Ufern. „Eine Passage ist ja nicht immer einfach“, sagt Sadrowski. „Es gibt Schwierigkeiten und Klippen zu umschiffen. Das haben wir gemeistert. Wir haben uns freiwillig zusammengetan, wir sind, einiger Krisen zum Trotz, die ganze Zeit über zusammengeblieben. Wir haben uns untereinander besser kennengelernt, haben erkannt, dass man als Gruppe stärker ist und im Endeffekt ein facettenreicheres Ergebnis liefern kann.“
Es gab bereits Treffen, zu überlegen, wie und unter welchen Bedingungen eine Fortsetzung vorstellbar wäre. Lust, Energie und Ideen sind vorhanden.